Inspiration Xibalba

Dichter Trockeneisnebel, aus dem langsam die dunklen Silhouetten der drei Musiker erscheinen, wabert über die Bühne, ehe ein Klang- und Lichtgewitter losbricht. Über Bildschirme flackern mystische Symbole. Durch große Bühnenpräsenz und eine eindringliche Stimme zieht Sänger Artaud Seth – flankiert von Bassistin Jawa Seth und Gitarrist Jon Tmoh – die Anwesenden in einen dunklen Strudel. Musik und visuelle Elemente erschaffen eine überwältigende, beinahe bedrohliche Atmosphäre.

(Einleitung by Marcus Rietzsch)

So oder so ähnlich lässt sich ein Konzert der Merciful Nuns beschreiben. Doch woher kommt die Inspiration für diese Darbietung, Jawa?

Inspiration kommt von: lateinisch inspiratio ‚Beseelung‘, ‚Einhauchen‘, aus in ‚hinein‘ und spirare ‚hauchen‘, ‚atmen‘; vgl. spiritus ‚Atem‘, ‚Seele‘, ‚Geist‘
Inspiration steht für eine Idee, einen Gedanken, ein Denkinhalt, eine Erinnerung, Erleuchtung, Eingebung oder auch Vorstellungsvermögen. Aus der schlichten Sicht eines Musikers sind Töne, Klänge, Sounds die Trägerboten dieser Inspiration. Für mich ist es schwer vorstellbar, Ideen ausschließlich in geschlossenen (Studio-) Räumen zu kreieren, zumindest wenn es um den ersten Ansatz geht, den jeder Beginn eines Albums benötigt. Wann immer es möglich ist, bereisen Artaud und ich diesen Planeten. Das Eintauchen in ein fremdes Land mit seinen Menschen, der Sprache, der Natur, dem Essen, seiner Geschichte, seiner Religion bedeutet anhaltende Inspiration für Artaud und für mich. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und stelle das Reisen auf die gleiche Stufe mit einem hedonistischen Leben. Andauernder Genuss und der damit verbundene Glückszustand sollten jede Reise begleiten und noch lang nachhallen!
Momente des Erlebten werden eingefangen, interpretiert und musikalisch auf einem Album der Merciful Nuns verewigt. Dieser ganze Prozess dauert fort: in der Entstehung des Albums, über das Kreieren der Videos und Bilder, dem Cover Artwork, mit dem Proben der Songs, den Visuals und der Darbietung auf der Bühne.

Für mich ist es die wunderbarste Art, jene heterogenen Momente der Reisen immer und immer wieder aufleben zu lassen und die Inspiration mit der Erinnerung wieder in das Gedächtnis zurückzuholen. Dieses Gefühl ist vergleichbar mit dem Anschauen der eigenen Bilder oder Videos einer Reise. Doch das Privileg unsererseits ist unvergleichlich: die Musik dazu, der entstandene Song und sein Text „konservieren“ das Erlebte auf Reisen in einer besonderen, vollkommenen Art und Weise. Durch die visuelle Umsetzung unserer Musik mit den Videos und Logos entsteht selbst auf der Bühne während eines Songs bei mir in manchen Momenten ein behagliches Gefühl von Erinnerung und „beseelt sein“, diese Reisen erlebt zu haben.

Auf jeder unserer Reisen durch Thailand, Kambodscha, Rumänien, Griechenland, Indien, Israel, Jordanien oder Mexiko ist unser Interesse groß an den Religionen und ihrer Geschichte. Wir betreten, wann immer es möglich ist, selbst die Pfade der alten Götter und deren heilige Stätten. Der Glaube ist so alt wie die Menschheit. Seinen Einfluss und seine Bedeutung beobachteten wir oft an Orten mit jenen Menschen, die ihre Religion leben und ausüben. So auch in Mexiko. In Erwartung einer verlassenen Tempelanlage in Uxmal, gelegen im westlichen Teil der Insel Yucatán, trafen wir überraschend auf religiöse Anhänger, wie auf dem Bild erkennbar. Sie schritten mit uns in die Tempelanlage in Richtung der beeindruckenden Pyramide des Wahrsagers der Maya. In weiße Gewänder gehüllt, von Gesängen und sonoren Trommeln begleitet versammelten sie sich um die Pyramide. Kontemplativ aber auch gelöst und voller Erwartung stimmten sie ein in ihre Gesänge und erhoben die Hände gen Himmel. Was für ein Schauspiel bot sich uns, welche Hingebung und Erleuchtung sie ausstrahlten, die Maya-Anhänger und deren Priester!
Die Eingebung oder Erleuchtung steht in religiösen Kontexten auch oft in engem Zusammenhang mit den Ritualen für die Götter. In dieser Hinsicht war die Menschheit oder soll ich eher sagen: die „religiöse Elite“ endlos ideenreich und von Inspiration geprägt. Waren wir Zeuge eines uralten Rituals oder einer neueren Form der Götteranbetung? Ich brauche an dieser Stelle nicht immer eine Erklärung, ich kreiere mir eigene Antworten, gepaart mit Inspiration und Fantasie.

Das individuelle Verweilen an diesen besonderen Orten ist daher meine „Beseelung“. Diese gilt es zu mitzunehmen, zu erhalten und immer wieder erlebbar zu machen, ganz gleich, welche Zeitrechnung und Taktungen das irdische Leben überdies stellt. Die Maya-Anhänger in Uxmal waren eine von vielen Erlebnissen in Mexiko, für mich jedoch eine der einprägsamsten Erinnerungen dieser Reise. In allen Stätten der Maya findet sich neben den Tempelanlagen auch der „Ort der Angst“: Xibalba, die neunstufige Unterwelt der Maya. Diese Bauten mit ihren Eingängen verlieren nie an Eindruck oder Inspiration. Ich kann es nicht erklären, aber die Faszination war spürbar, sobald ich diese Orte betreten habe. Kein Foto, keine Kamera kann diesen Eindruck festhalten. Vielleicht eine zeitnahe Umschreibung meiner Erlebnisse in Form eines Reisetagebuches führen indes zum Erhalt des erlebten Gefühls. Doch erst die nachfolgende Musik mit ihren Texten und Melodien, visuellen Umsetzungen in Form von Cover Artwork und einem Video konservieren für mich das wundervolle Erlebnis einer jeden Reise: die Inspiration in ihren vielen Facetten.

So war unsere Mexiko-Tour eine sehr inspirierende Zeit. Das daraus entstandene Album „Xibalba“ ist eines meiner Favoriten von den Nonnenalben. In den unterschiedlichen und imposanten Mayastätten mitten im mexikanischen Dschungel, fernab jeglicher Zivilisation ist es hautnah erlebbar: das Inspirierende, der „Hauch“ der alten Religion, fast wie eine kleine Zeitreise in die Vergangenheit.  So geht auf Reisen, wann immer es euch möglich ist.

„Reisen. Es lässt dich sprachlos, dann verwandelt es dich in einen Geschichtenerzähler.“

(Zitat von Ibn Battuta, arabischer Rechtsgelehrter)

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